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«Was kann der Mensch noch als Mehrwert leisten?»

Interview mit PROF. DR. JAN VOM BROCKE, Inhaber des Hilti Lehrstuhls für Business Process Management und Direktordes Instituts für Wirtschaftsinformatik an der Universität Liechtenstein

Eine Frage, die sich Prof. Dr. Jan vom Brocke im Prozessmanagement immer wieder stellt. Warum wir dank Digitalisierung Zeit gewinnen und wie wir sie nutzen sollten, erzählt der Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik der Universität Liechtenstein im Interview.

«Alles ist jetzt ultra. (…) Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt. (…) Junge Leute werden (…) im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist es, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Alle möglichen Erleichterungen der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten…» Was glauben Sie, Herr Prof. Dr. vom Brocke, wann wurde dieser Text verfasst?
Jan vom Brocke: Wahrscheinlich vor 100 Jahren (lacht). Man ist immer wieder verblüfft, dass Texte von damals auch heute noch zutreffen. Aber sagen Sie es mir.

Der Schreiber ist Johann Wolfgang von Goethe. Er beklagt sich in einem Brief an seinen Freund, den Komponisten Zelter, über das Tempo der Zeit. Wie viel Tempo hält denn der Mensch aus Ihrer Sicht aus?
Das ist schwierig zu sagen, weil es jeder Mensch anders wahr – nimmt. Es hat auch viel mit Gewöhnung zu tun. Aber ich denke schon, dass wir heute mehr Dynamik und Beschleunigung als früher haben. In der Wirtschaftsinformatik beeinflussen wir das auch stark, indem wir das Tempo mit der Digitalisierung weiter hochdrehen. Damit verbinden sich wichtige Herausforderungen. Wir müssen deshalb lernen, zu entscheiden, wie schnell wir gehen wollen und sollten und wie wir Zeit, die wir gewinnen auch investieren. Das ist eine grosse Verantwortung, die wir als Gesellschaft und vor allem für unsere Kinder haben,

In unserem Wirtschaftssystem ist Tempo zur Norm geworden – immer schneller, höher, weiter. Geraten wir in eine schier ausweglose Spirale immer grösseren Zeitdrucks?
Tendenziell ja. Aber die Digitalisierung führt zu einer höheren Kapitalproduktivität. Das heisst: Wir sind im Stande, mit weniger Einsatz mehr zu leisten, weil die Technik und die Unternehmen effizient sind. Die Frage ist: Wofür nutze ich die frei werdende Kapazität? Für mehr Profitabilität? Oder kümmern wir uns um andere Dinge, zum Beispiel um die Erneuerbarkeit der Welt, und setzen uns für mehr Nachhaltigkeit ein. Wenn wir weiterhin dem linearen Bild des Wachstums folgen, dann hat das irgendwann ein Ende. Denn jede Technologie hat wie ein Mensch eine maximale Performance, und Ressourcen sind begrenzt.

Wenn der Mensch also viel automatisiert, dann gewinnt er wieder die Souveränität über die Zeit zurück?
Wir haben die Möglichkeit dazu. Die Frage, die ich mir dabei immer wieder stelle, ist: Was kann der Mensch noch als Mehrwert leisten? Immer perfekt, schnell, gehorsam sein? Das können Roboter besser. Und wir wollen ja keine drittklassigen Roboter werden. Was machen wir also noch? Ich habe hier eine starke Meinung: Es sind die menschlichen Dinge wie Empathie, Motivation, Vertrauen, Kreativität und Reflektion, die im Vordergrund stehen müssen. Einerseits haben wir hier eine Differenzierungsmöglichkeit. Andererseits ist dies notwendig, um die Mensch-Maschine-Gesellschaft, in der wir immer mehr leben, auch in eine gute Richtung zu entwickeln.

Wenn wir weiterhin dem linearen Bild des Wachstums folgen, dann hat das irgendwann ein Ende.»

Der Online-Handel boomt. Dieser Trend hat sich durch die Corona-Pandemie verstärkt. Welche Rolle spielt hierbei der Zeitdruck für Unternehmen und ihr Prozessmanagement?
Je mehr Unternehmen ihr Kerngeschäft digitalisieren, desto weniger sind sie für Krisen anfällig. Das zeigt sich gerade in der aktuellen Pandemie. Gut wäre – und das ist meine Empfehlung –, die frei werdende Kapazität für einen wichtigen Bereich einzusetzen, nämlich das Neue zu erfinden und sich auf künftige Veränderungen vorzubereiten. Insbesondere in der Veränderungsfähigkeit sehe ich eine der wichtigsten Kernkompetenzen für Unternehmen – und auch für uns Menschen.

Gerade Echtzeit-Informationen und schnelle Reaktionszeiten zeichnen neuartige Logistikprozesse aus. Vom Internet der Dinge über Automatisierung bis zur Logistik auf der letzten Meile. Das sind auch Schwerpunktthemen der Liechtensteinischen Post AG. Wie beurteilen Sie diese strategische Ausrichtung?
Dienstleistungen in einer Lieferkette auf der sogenannten letzten Meile anzubieten, ist in unserem dispersen Wohnraum sehr interessant und nützlich. Spannend sind auch innovative Organisationsformen, wie Uber, Mobility oder Netflix es vormachen. Als Junge habe ich zur Aufbesserung des Taschengelds immer Zeitungen ausgetragen. Vielleicht machen wir alle so etwas in der Art wieder mehr in Zukunft (lacht). Überlegenswert wäre auch, wie ein Informationslogistik-Anbieter Dienstleistungen entwickeln könnte, die weltweit exportiert werden. Gerade in der digitalen Welt kennt die Informationslogistik keine Grenzen. Die Liechtensteinische Post AG ist hier sehr aktiv, um neue Möglichkeiten kontinuierlich zu prüfen und innovative Projekte zu realisieren.

Worauf kommt es an, wenn Unternehmen digitale Prozesse etablieren wollen?
Am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Liechtenstein bieten wir konkrete Unterstützung für Unternehmen der Region, wie sie ihre Prozesse, Dienstleistungen und Produkte digitalisieren können. Jeder kann uns gerne ansprechen und wir organisieren auch Workshops. Wir schauen uns dabei das Unternehmen an und versuchen, klar herauszuarbeiten, was gut und was weniger gut läuft – immer ausgehend von den Zielen, die das Unternehmen verfolgt. Danach prüfen wir, welche digitale Technologie für die Herausforderung am besten passt. Meist ist es ein Mix an Technologien wie beispielsweise Internet der Dinge, Robotics, künstliche Intelligenz, Social Media, Data Analytics, die wir auf das Unternehmen hin zuschneiden. Und wenn wir das grosse Bild vor Augen haben, beginnen wir damit, Prototypen zu realisieren. Da spielt die Zeit auch wieder eine wichtige Rolle. Keiner weiss heute, wie die Welt in einem Jahr aussieht. Wir müssen daher weg vom Denken in grossen Masterplänen und mehr hin zum Handeln kommen, und zwar zu einem möglichst agilen und iterativen Handeln. Das ist aber nicht so einfach. Die meisten von uns sind in einer Welt gross geworden, in der wir gelernt haben, die Dinge zu kontrollieren. Jetzt müssen wir uns umgewöhnen.

Braucht es dazu auch neue Führungsqualitäten?
Definitiv. Eine gute Führungskraft glaubt nicht, alles zu wissen, sondern sie holt sich Rat und führt jenseits ihrer Kompetenzen. Sie ist ein Vorbild, indem sie motiviert und empathisch ist. Sie ist kompetent und hat ein ausgeprägtes Interesse, Probleme zu verstehen, und auch den Mut, innovative Lösungen auszuprobieren. Das geht in der Regel einher mit flachen Hierarchien und einfacheren Strukturen im Unternehmen. Ambition, Vertrauen und eine ganz grosse Portion Freude sind sehr wichtige Elemente.

Dank digitalisierter Prozesse kann man auch die Wirkung besser messen.
Das ist richtig. Handys, Autos, Wohnungen, Smartwatches sind deswegen digital, weil sie Daten aufnehmen, verarbeiten und weitergeben können. Sie sind mit Sensoren ausgerüstet, vernetzt und können miteinander kommunizieren. Auf diese Weise stehen immer mehr Daten zur Verfügung. Man denke beispielsweise an eine digitale Patientenakte, die vieles beim Arztbesuch erleichtern würde. Und das ist nicht einmal sonderlich innovativ, sondern seit Jahrzehnten auf der Agenda. Algorithmen erkennen in Sekundenschnelle Muster, die wiederum für die frühzeitige Erkennung von Krankheiten nützlich sind. Dieses Datensammeln mag einerseits beängstigend sein. Auf der anderen Seite können wir immer intelligentere Assistenzsysteme kreieren, die uns dienen und schliesslich Menschen bei der Reflektion und Entscheidungsfindung unterstützen

Aber viele Menschen sträuben sich, ihre Daten zur Verfügung zu stellen.
Das hat sehr viel mit Vertrauen und positiven Erlebnissen zu tun. Wir würden unser Geld auch nicht zur Bank bringen, wenn wir kein Vertrauen in sie hätten. Wir sehen das Geld auf dem Konto ja nicht, aber wir haben glücklicherweise erfahren, dass es dort nicht verloren geht. Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung einen Schub verliehen, da vieles online ausprobiert werden konnte. Aber man muss auch aufpassen. Je mehr wir digital unterwegs sind, desto mehr ist man angreifbar und verwundbar. Deshalb legen wir bei der Universität Liechtenstein auch grossen Wert auf Cybersicherheit. Die Hilti Family Foundation hat hierfür grosszügigerweise einen weiteren Lehrstuhl bei uns gestiftet, den Hilti Lehrstuhl für Daten- und Applikationssicherheit. Wir gründen nun ein Kompetenzzentrum zum Thema «Sichere digitale Innovation». Unser Grundsatz lautet: Alles was wir digital machen, muss auch sicher sein.

Derzeit zeigt sich auch eine Werteverschiebung hin zu mehr Nachhaltigkeit. Wie wirkt hier die Digitalisierung?
Gerade digitale Technologien ermöglichen es, wesentlich zu nachhaltigem Handeln beizutragen. Ein einfaches Beispiel aus der Geschäftswelt sind Videokonferenzen, die sich positiv auf die Umwelt auswirken und unser Verhalten nachhaltig beeinflussen werden. Auch Smart Homes helfen, durch eine bedarfsgerechtere Gebäudebewirtschaftung Strom zu sparen und die Umwelt zu schonen. Das sehen wir in allen Bereichen – auch in der Mobilität. Je mehr wir über echte Bedarfe lernen, etwa durch Sensoren, desto besser können wir Angebote planen und bereitstellen. Dies erhöht die Kapitalproduktivität, die nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch und sozial wirkt.

Reagieren Unternehmen in Liechtenstein schnell genug auf technologische Veränderungen?
Ich denke, dass wir einen echten Standortvorteil haben – insbesondere durch die Kleinheit und die guten Beziehungen. Auch die Bereitschaft zur Veränderung und ein doch sehr gut ausgeprägtes Unternehmertum – vor allem in der Einstellung und Herangehensweise an Dinge – bringen uns in eine gute Ausgangslage. Das Beispiel Blockchain hat dies auch deutlich gezeigt. Vor einigen Jahren wussten die meisten nicht, was eine Blockchain ist. Und heute sind wir das erste Land der Welt mit einem «Blockchaingesetz» und weltweit bekannt als ein Standort für Blockchain-Innovation. Schnell auf Herausforderungen und Chancen eingehen zu können, ist die Fähigkeit der Zukunft. Da haben wir eine gute Ausgangslage. Zugleich sehen wir heute, dass viele Standorte massiv im Bereich Digitalisierung und gerade auch in der Forschung und Lehre zur Digitalisierung investieren. Da müssen wir aufpassen, dass Liechtenstein nicht rechts und links überholt wird. An der Universität Liechtenstein verfolgen wir hier eine Nischenstrategie, indem wir in ausgewählten Bereichen Weltklasse sind. Je mehr es gelingt, hier die Substanz weiter zu stärken und auch Signale zu setzen, desto besser wird sich Liechtenstein insgesamt als Standort für Digitalisierung und Wertschöpfung entwickeln.

Dann gehört natürlich auch eine gute Portion Mut dazu und auch die Einstellung, ruhig einmal etwas auszuprobieren, wenngleich es mal nicht so läuft wie geplant. Aber mit jedem Versuch lernen wir und entwickeln uns weiter. Das sind sehr wichtige Voraussetzungen für Innovationsstandorte – nicht in Fehlern zu denken, sondern in Chancen. Auch hier zeigt sich die gesellschaftliche Bedeutung des Themas und die wichtige Rolle, die wir als Menschen dabei spielen.

Zur Person
Prof. Dr. Jan vom Brocke ist Inhaber des Hilti Lehrstuhls für Business Process Management und Direktor des Instituts für Wirtschaftsinformatik an der Universität Liechtenstein. In internationalen Vergleichen zählt Jan vom Brocke zu einem der führenden Wissenschaftlern auf dem Gebiet der Digitalisierung, eine aktuelle Studie der Stanford University zählt ihn zu einem der meist zitierten Wissenschaftler weltweit. Jan vom Brocke ist Autor und Herausgeber von 43 Büchern, u.a. den Büchern «Business Process Management – Driving Innovation in a Digital World», «Green Business Process Management – Towards the Sustainable Enterprise» und «Business Process Management Cases. Driving Digital Innovation and Business Transformation in Practice»
Er fungiert weltweit als Referent, Gutachter und Berater zu Innovations- und Transformationsprozessen in Wirtschaft und Gesellschaft. Seine Freizeit verbringt er am liebsten mit seiner Familie und mit Freunden. Der gebürtige Deutsche wohnt in Ruggell, ist verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von sechs und acht Jahren.
www.janvombrocke.com